Strategiepapier 2010
Lageanalyse 2010 und Politikempfehlungen

 

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Menschenrechte in Belarus e.V.

Strategiepapier
Lageanalyse 2010 und Politikempfehlungen


I. Das Regime unter außenpolitischem Druck

Die am 19. Dezember 2010 in Belarus anstehenden Präsidentschaftswahlen werden von einer substantiellen Verschlechterung der Beziehungen des Landes und seines Präsidenten Alexander Lukaschenko mit Russland, von einer angespannten Finanz- und Wirtschaftslage und einem ambivalenten Verhältnis zur Europäischen Union überschattet. Am Vorabend der Wahlen mehren sich auch repressive Akte der Macht gegen DissidentInnen und Oppositionelle.

Im Falle freier und fairer Wahlen könnte ein gemeinsamer Kandidat der politischen und zivilgesellschaftlichen Opposition vielleicht zum ersten Mal seit dem Machtantritt Lukaschenkos im Jahre 1994 eine reale Chance haben, als Sieger aus den Wahlen hervorzugehen. Die Einigung der Opposition auf einen Kandidaten scheint allerdings sehr unwahrscheinlich.

Der privilegierte Zugang belarussischer Waren zum russischen Markt und die gegenüber der internationalen Preisbildung für Gaslieferungen begünstigten Lieferpreise für Belarus werden von Moskau Schritt für Schritt abgebaut. Gegenüber dem Jahr 2005 hat sich der Preis russischer Gaslieferungen an Belarus vervierfacht. Der aktuelle Preis liegt bei 193-194 US$ pro 1000 Kubikmeter Gas. Im Jahre 2005 lag er bei 48,6 US$. Zusätzlich zu diesen Belastungen mussten Regierung und Wirtschaft die internationale Finanzkrise, den Rückgang der Wirtschaftsleistung und die Reduktion der russischen Subventionen für russische Öllieferungen an Belarus verkraften. Der Reformdruck auf wirtschaftlichem Gebiet steigt.

Moskau drängt auf die kapitalmäßige Übernahme von Filetstücken der belarussischen Wirtschaft durch russische Unternehmen. Lukaschenko widersteht dem Druck im Wesentlichen - aber wie lange noch?

Mit Lukaschenko-kritischer medialer Berichterstattung fördert Moskau eine dem bislang als "treuen Freund" anerkannten belarussischen Machthaber abträgliche öffentliche Meinungsbildung in Russland.

Mit der auch von Belarus geforderten Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit der beiden georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien würde Minsk dem Moskauer Herrschaftsanspruch über den post-sowjetischen Raum Vorschub leisten und Zweifel an der Dauerhaftigkeit der eigenen Unabhängigkeit aufkommen lassen.

Die seit Februar 2010 mit beachtlichen finanziellen Mitteln in Belarus betriebene Kampagne "Sprich die Wahrheit", die seit September mit Uladzimir Nyaklyayew auch einen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellt, weist auf Geldgeber in Russland hin und könnte ohne russische Duldung nicht betrieben werden.

Russland hat es in der Hand, die Daumenschrauben weiter anzuziehen.

II. Belarus und die "Östliche Partnerschaft" der Europäischen Union

Ungeachtet gravierender Defizite im demokratischen Transformationsprozess ist auch Belarus aus Gründen der kohärenten Regionalpolitik Teilnehmer der am 7. Mai 2009 vom EU-Gipfel in Prag initiierten "Östlichen Partnerschaft" geworden.

Für die Europäische Union und andere Europäische Institutionen wie den Europarat und die OSZE bleibt die Entwicklung demokratischer Staats- und Gesellschaftsstrukturen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, also auch in Belarus, ein wichtiges Ziel im Rahmen der Östlichen Partnerschaft.

Die erste Tagung des Zivilgesellschaftlichen Forums der Östlichen Partnerschaft, die am 17. November 2009 in Brüssel stattfand und im November 2010 ihre Fortsetzung findet, formulierte für Belarus und andere osteuropäische Teilnehmerländer die Forderungen nach

  • Erleichterungen für die Registrierung von Nichtregierungsorganisationen,
  • fairen und freien Wahlen,
  • Medienfreiheit sowie nach
  • Aufhebung der politischen und strafrechtlichen Verfolgung von politischen Gegnern des Regimes.

Die Europäischen Institutionen wurden aufgefordert, Benachteiligungen im Visa-Bereich zu beseitigten und insbesondere jungen Menschen den Zugang zum Raum der Europäischen Union für Aus- und Fortbildung sowie für Berufspraktika uneingeschränkt zu ermöglichen.

Die Ergebnisse der Beratungen wurden und werden nicht nur der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat vorgetragen, sondern durch ausgewählte VertreterInnen des Forums auch den verschiedenen Plattformen der Östlichen Partnerschaft. So gelangen sie auf die Tagesordnung der mit Regierungsvertretern besetzten multilateralen Einrichtungen der Partnerschaft. Den ersten Bericht dieser Art gab der belarussische Sprecher des Forums Sergej Matskiewitsch im Auftrag des Zivilgesellschaftlichen Forums vom 17. November 2009.

Im Frühjahr 2011 wird die Ministertagung der Östlichen Partnerschaft Zwischenbilanz ziehen.

Die Europäische Union wird ihr politisches, finanzielles und gesellschaftliches Engagement im Rahmen der Östlichen Partnerschaft verstärken müssen, um wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven und dem gesellschaftlichen Wandel in den beteiligten osteuropäischen Ländern Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit zu verleihen.

Mangels sichtbarer und nachhaltiger Schritte auf dem langen Weg der demokratischen Transformation liegt das im Jahre 1995 vereinbarte Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Belarus seit dem Verfassungscoup von Lukaschenko im November 1996 auf Eis. Ebenso lehnte die Europäische Union bislang Visa-Erleichterungen für Belarus ab. Das von der Östlichen Partnerschaft angestrebte Ziel größerer Reisefreiheit gibt nun endlich Anlass für Verhandlungen über Visa-Erleichterungen - auch mit Belarus.
Der EU-Ministerrat hat am 17. November 2009 die Kommission mit der Vorbereitung der Verhandlungen mit Belarus beauftragt.

Während Belarus seine Finanzwirtschaft unter Nutzung von IWF-Krediten und damit auch unter dem Druck dieser internationalen Organisation auf Reformkurs gebracht hat, verharrt die Modernisierung der belarussischen Industrie auf der Stelle. Die für die industrielle Erneuerung unverzichtbare Reform der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen scheint mit den Handlungsspielräumen des autoritären Regimes unvereinbar zu sein.

Auf dem Felde der Menschenrechte bleibt die Situation auch aus der Sicht der Europäischen Institutionen unbefriedigend:

  • Todesurteile werden weiterhin vollzogen,
  • Wahlen werden weiterhin in grober Weise manipuliert,
  • Nichtregierungsorganisationen mit einer auf die demokratische Transformation und die Achtung der Menschenrechte ausgerichteten Agenda und mit ausländischen Kontakten werden diskriminiert und behindert,
  • Demonstrationen werden durch administrative Maßnahmen, u.a. der Verurteilung zu kurzen Gefängnisstrafen, unter Kontrolle gehalten oder verhindert,
  • das Medien-Monopol des Regimes (Fernsehen, Rundfunk, Tageszeitungen) besteht fort. Erleichterungen für einige Medien sind die Ausnahme geblieben, und
  • die Freiheit von Lehre und Forschung bleibt ein frommer Wunsch. Der Druck auf WissenschaftlerInnen und wissenschaftliche Meinungsforschungsinstitute nimmt zu. Der Boykott gegenüber der aus Minsk exilierten unabhängigen Universität - der Europäische Humanistische Universität - besteht fort. Das in belarussischer Sprache unterrichtende Jakub-Kolas-Gymnasium kann nur in provisorischem Rahmen fortgeführt werden.
  • Die Richtlinien für den Schulunterricht bleiben dem sozialistischen Ideal - dem Vorrang des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen - verhaftet, auch wenn der Übergang zu Hochschulstudien nach dem Bologner Modell mittlerweile beschlossene Sache zu sein scheint. Administrative Willkürakte verunsichern den Lehrkörper.

III. Empfehlungen an die Politik

Angesichts der labilen internationalen Lage von Belarus ist es für die Europäische Union angezeigt, eine Doppelstrategie zu entwickeln und zu verfolgen:

Diese muss zum einen auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen im Rahmen der Östlichen Partnerschaft sowie bilateral abzielen, um die Modernisierung der belarussischen Industrie und Landwirtschaft zu fördern, ohne das Regime aus der Verpflichtung zu demokratischen Reformen nach den Vorgaben der Charta von Paris vom November 1990 zu entlassen.

Zum anderen muß sich die Doppelstrategie auf die Vernetzung der bi- und multilateral bestehenden Zusammenarbeit verschiedener Strukturen der belarussischen Zivilgesellschaft mit denen der EU-Mitgliedstaaten richten - und zwar unabhängig von der Entwicklung der Beziehungen auf staatlicher Ebene. Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft sollten Kooperationen mit den regierungsseitig besetzten Plattformen für die Förderung von Rechtstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit sowie von Ausbildung und Bürgerbegegnungen genutzt werden.

Im Einzelnen gehören dazu:

  • gebührenfreie Visa-Erteilung,
  • Förderung der Einheimischen Wahlbeobachtung,
  • Ausbildungsprogramme und Praktika für junge BelarussInnen in allen Bereichen,
  • Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Initiativen beider Seiten (z. B. Förderprogramm der Bundesregierung),
  • Belarus-Konferenzen im wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und politischen Bereich,
  • Einrichtung von Beauftragten für die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in Belarus in der Europäischen Union und in den Mitgliedstaaten.


Berlin, September 2010

Dr. Hans-Georg Wieck
Vorsitzender

Stefanie Schiffer
Stellv. Vorsitzende

Christoph Becker
Stellv. Vorsitzender

 

 

 

 

 

Repression in Belarus

In Belarus, einem der neuen Nachbarn der Europäischen Union in Osteuropa, werden Menschenrechte massiv verletzt. Präsident Alexander Lukaschenko, 1994 nach einer demokratischen Verfassung gewählt, hat das Land mit einem Verfassungscoup im November 1996 und danach in einen neo-sowjetischen autoritären Staat umgewandelt:

Die Geltung von Verfassung und Gesetzgebung wurde durch die Willkür von Präsidialdekreten ersetzt.

Die Teilung zwischen der Exekutiven, der Legislativen und der Judikativen Gewalt des Staates wurde aufgehoben.
Wahlen werden systematisch manipuliert. Das Parlament hat keine Rechte. Das Budget des Präsidenten unterliegt der Geheimhaltung.
Die elektronischen Medien liegen in der Hand der Staatsmacht. Die freie Presse wird behindert, kritische Journalisten werden verfolgt.
Regierungsunabhängige Organisationen werden verboten.

Führende Oppositionelle wurden ermordet oder „verschwanden“.

Diese und andere Menschenrechtsverletzungen sind von weißrussischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen sowie von Europarat, OSZE und Vereinten Nationen dokumentiert worden. Doch das Regime von Lukaschenko kann sich zunutze machen, dass das politische Interesse an Weißrussland in Europa gering ist. Darunter leiden die alle Menschen in Weißrussland, die Opfer der Repression werden und sich demokratisch-rechtsstaatliche Verhältnisse in ihrem Land wünschen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 

 

 

Vorstand Dr. Hans-Georg Wieck
Stefanie Schiffer
Christoph Becker

 

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