Belarus versucht sich in Neutralität

Veröffentlicht von Christoph Becker am

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Ein Bericht vom 14. Minsk Forum, November 2016.

Von Christoph Becker, Vorstandsmitglied und Schatzmeister der Vereinigung „Menschenrechte in Belarus e.V., Berlin.

Belarus bietet sich als Mittler im angespannten Verhältnis zwischen der EU und Russland an. Darin ist der Wunsch nach einer größeren Distanz zu Russland zu erkennen, mit dem es politisch, wirtschaftlich und vor allem im Sicherheitsbereich aufs Engste verbunden ist. Gleichzeitig signalisiert die angestrebte Mittlerrolle, dass das Regime keine Absicht hegt, sich übermäßig an die EU und ihre Werte anzulehnen. Die EU sollte sich deshalb Klarheit darüber verschaffen, dass die von Belarus betriebene Annäherungspolitik rein geostrategischen und wirtschaftlichen Motiven folgt. Auf der Werteebene werden die Beziehungen unverändert schwierig bleiben. Die EU sollte ihre Schritte deshalb mit Bedacht wählen und mit konkreten Vereinbarungen verknüpfen. Die EU kann zwar kein Interesse daran haben, dass Russland sich Belarus vollständig einverleibt. Dieses Szenario abzuwenden, verdient Unterstützung. Für Zugeständnisse bei Fragen von Demokratie und Menschenrechten besteht deshalb jedoch keine Notwendigkeit.

Nach sechs Jahren konnte im November 2016 das Minsk Forum erstmals wieder in der belarussischen Hauptstadt tagen. Die Wiederaufnahme des deutsch-belarussischen Konferenzformats steht im Zeichen der neuerlichen Dialogpolitik zwischen EU und Belarus. In den vergangenen 12 Monaten hatte die EU ihre Sanktionen gegenüber Belarus zurück genommen.

Die Belarussische Regierung signalisierte mit der Anwesenheit der stellvertretenden Außenministerin Alena Kuptschyna, dass sie dem Forum Bedeutung zumisst. Von EU-Seite war der für die Region zuständige Abteilungsleiter des Europäischen Auswärtigen Dienstes, Gunnar Wiegand, die Leiterin der örtlichen EU-Delegation, Andrea Wiktorin, und der Beauftragte des Auswärtigen Amts für Osteuropa, Andreas Peschke, erschienen.

Auf beiden Seiten wurde zu allererst die Sicherheit in Europa als wichtigste Frage der Beziehungen benannt. Diese sei durch den Krieg im Nachbarland Ukraine schwer beschädigt worden. Die Vertreter aus Deutschland und der EU honorierten ausdrücklich die unterstützende Rolle von Belarus in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Die Wiederannäherung der EU mit Belarus solle weiteres Vertrauen schaffen und die Sicherheit in der Region stärken.

Die belarussischen Regimevertreter betonten vor allem ihr Interesse an einem Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation. Die geografische Lage von Belarus im Zentrum Europas an der Schnittstelle von Integrationsräumen und Handelswegen weise dem Land eine vermittelnde Rolle zu – wirtschaftlich, politisch und auch sicherheitspolitisch. Man wolle sich darum bemühen, die beiden Integrationsräume von EU und Eurasischer Union mit einander kompatibel zu machen. Zu beiden Seiten wolle man gute und mit einander vereinbare Wirtschaftsbeziehungen. Gleiches gelte für die OSZE und das von Moskau dominierte eurasische Sicherheitsbündnis „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS), dem die meisten GUS-Staaten angehören. Die belarussischen Regimevertreter klangen dabei bisweilen so, als würden sie nicht den von Russland dominierten Bündnissen angehören, die vorrangig den Hegemonieinteressen des Kreml dienen.

Wiederholt wurde die belarussische Unabhängigkeit betont. Die Darstellung auf einem Podium, der in den 1990er Jahren gegründete Unionstaats von Belarus mit Russland sei eher symbolischer Natur und über Absichtserklärung kaum hinaus gekommen, wurde von belarussischer Regierungsseite pflichtgemäß zurück gewiesen. Gleichwohl war das Bedürfnis nach größerer Unabhängigkeit von Russland spürbar.

Die Belarussische Regierung präsentierte ihre Idee eines neuen Helsinkiprozesses, mit dem man an die Minsk-Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine anknüpfen werden wolle. Das Anliegen sei, die Prinzipien der OSZE zu erneuern und an die Entwicklungen anzupassen. Der Analyst Jauheni Preihermann beschrieb die Idee des neuen Helsinkiprozesses als Chance, die belarussische Unabhängigkeit von Russland zu erweitern und abzusichern. Die EU-Seite reagierte auf diesen Vorschlag zurückhaltend. Fraglich muss bleiben, ob eine solche Reform der OSZE-Prinzipien die Gefahr ihrer Unterminierung beinhaltet und wie bei vorangegangenen Reformforderungen aus Osteuropa als Vorwand missbraucht werden könnte, die menschliche Dimension und vor allem die Wahlbeobachtung zu schwächen oder ganz zu beseitigen. Von unabhängiger Analystenseite wurde die OSZE-Initiative als Versuch gewertet, das Momentum der Minsk-Verhandlungen zur Ukraine und die damit verbundene internationale Aufwertung des Staatschefs Lukaschenko fortzuschreiben.

Alexander Lukaschenko hat in den letzten Monaten zweifelsohne seine politischen Spielräume gegenüber Russland erweitert. Fraglich ist, wie viel Unabhängigkeit der Kreml zu tolerieren bereit ist und wo seine roten Linien verlaufen. Die tiefgreifende sicherheitspolitische Verflechtung mit Belarus wird der Kreml sicher nicht zur Disposition stellen.

Die Regierung von Belarus will im kommenden Jahr ihren Vorsitz in der kaum bekannten Zentraleuropäischen Initiative (CEI) für die angestrebte Mittlerrolle nutzen. Die CEI ist ein Zusammenschluss von Österreich, Ungarn, den jugoslawischen Nachfolgestaaten mit Italien und Albanien, erweitert um die Visegrad-Staaten, sowie Belarus, Ukraine, Moldau, Rumänien und Bulgarien. Sie ist vor allem im wissenschaftlichen und technologischen Sektor aktiv. Deshalb wird der belarussische CEI-Vorsitz wohl eher Symbolpolitik und Demonstration von Unabhängigkeit bleiben.

Die ehemalige oppositionelle Präsidentschaftskandidatin Tatjana Korotkewitsch von der Bewegung „Sag die Wahrheit“ unterstützte die Haltung der Regierung zur Brückenfunktion, die ihr Land aufgrund seiner Lage habe. Hierbei bleibt unberücksichtigt, dass diese Selbstbestimmung auf eine Brückenfunktion auch die Gefahr einer weiteren Einschränkung der Souveränität mit sich bringen könnte, wenn mit eben dieser Funktion einmal die freie Bündniswahl in Frage gestellt werden sollte.

Der langjährige Oppositionsführer Anatoli Lebedko äußerte Kritik an der Integration seines Landes in die von Russland dominierte Eurasische Wirtschaftsunion. Hierbei stelle sich die Frage ob diese dem Land überhaupt nutze. Seine kritische Haltung wird durch aktuelle Handelszahlen bestätigt, die nahelegen, dass bislang jedenfalls ausschließlich Russland von dem Verbund wirtschaftlich profitiert.

Die belarussische Regierungsseite setzt außerdem Hoffnung auf das chinesische Mammutprojekt der „neuen Seidenstraße“. Man wolle hier als wichtiges Durchgangsland von den Warenströmen profitieren zu können. Der chinesische Autobauer „Geely“ produziert inzwischen in Belarus für den osteuropäischen Markt. Aber der geplante chinesische Industriepark bei Minsk kommt nicht so recht voran. Die chinesischen Investitionen bleiben deutlich hinter den Milliarden-Ankündigungen zurück und sind zudem typischerweise mit der Auftragsvergabe an chinesische Unternehmen verbunden. Dies läuft wie andernorts auch auf einen schuldenfinanzierten Export chinesischer Dienstleistungen mit wenig Wertschöpfung für die Zielländer hinaus.

Die deutschen und Brüsseler Diplomaten betonten, dass im Dialog mit Belarus auch Fragen von Menschenrechten und Grundfreiheiten eine Rolle spielten. Mehrfach wurde erkennbar und auch erklärtermaßen ritualisiert die Todesstrafe angesprochen, für die zumindest ein Moratorium gefordert wurde. Diese Frage gilt möglicherweise ein wenig als Ausweichthema, bei dem man sich gegenseitig freundlich des Dissenses versichern kann und gleichzeitig den mühevollen Ebenen der alltäglichen Menschenrechts- und Demokratiefragen aus dem Weg gehen kann. Letztere wurden jedenfalls von keiner der beiden Seiten auf der Konferenz konkreter erörtert. Der deutsche Botschafter betonte jedoch, dass die Gewährung von Menschenrechten und Grundfreiheiten nicht im Widerspruch zur Sicherheit stehe, sondern deren Grundlage und Voraussetzung und damit im beiderseitigen Interesse sei.

Dazu stand die Äußerung des einzigen anwesenden deutschen Abgeordneten im schroffen Gegensatz. In einem Rundumschlag erklärte der Christdemokrat Karl-Georg Wellmann die Ostpolitik der EU und Deutschlands für gescheitert. Dies zeigten der Krieg in der Ukraine und die vergangenen zehn Jahre der Beziehungen zu Belarus, die wegen der Sanktionspolitik als verloren gelten müssten. Als die Östliche Partnerschaft in Leben gerufen wurde, habe man habe nicht ausreichend Rücksicht auf Russland genommen. Entgegen bekannten Tatsachen behauptete er, Russland sei nicht einbezogen worden. Es sei falsch gewesen, die Ukraine vor eine ultimative Wahl zu stellen – entweder Assoziierung mit der EU oder Eintritt in die Eurasische Wirtschaftsunion mit Russland. Der Abgeordnete wiederholte mit solchen Darstellungen bekannte und bereits widerlegte Narrative, die nicht der Realität entsprechen.

Grundsätzlich kritisierte er den Anspruch der EU, in der Nachbarschaft eine Transformationspolitik vorantreiben zu wollen, auch wenn die Länder dies vielleicht selbst gar nicht wollten. Zur Untermauerung verwies er auf die OSZE-Prinzipien, die mit der staatlichen Souveränität auch eine freie Bündniswahl verbinden. Er stellte mit dieser sowjetisch anmutenden Lesart der Helsinkidokumente implizit die Universalität der Grundfreiheiten in Frage. Auch ignoriert eine solche Haltung, dass die Politik autoritär und mit Repression und Propaganda agierender Regime nicht mit dem Willen der betroffenen Bevölkerung gleichzusetzen ist. Seine Äußerungen stießen im anwesenden belarussischen Publikum auf Irritationen. Die EU-Delegationsleiterin konterte auf Podium und markierte eine differierende Haltung der EU. Dass kein anderer deutscher Abgeordneter für eine differenziertere Darstellung der Haltung im Bundestag sorgen konnte, war äußerst misslich.

Von Brüsseler Seite wurde berichtet, dass man gemäß dem neuen Ansatz der Östlichen Partnerschaft nun auch mit Belarus maßgeschneiderte Beziehungen entwickle. Von einem Assoziierungsabkommen wie mit anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft könne keine Rede sein. Die EU habe jedoch vor wenigen Tagen Vorschläge für mögliche Kooperationsbereiche – sogenannte partnership priorities – auf den Tisch gelegt. Diese werde man nun mit der belarussischen Seite diskutieren. Dem neuen Ansatz folgend sollten die Partnerländer selbst entscheiden, in welchen Bereichen die Zusammenarbeit mit der EU vertieft werden. Die Einbindung von NGO-Vertretern in diesen Prozess wurde von Seiten der EU honoriert, auch wenn hier „noch sehr viel Luft nach oben“ sei. Vizeaußenministerin Kuptschyna hatte immerhin zuvor ungefragt erwähnt, dass im Dialog mit der EU auch Wege zur Beteiligung der Zivilgesellschaft gesucht würden.

Belarus hat sich in den letzten Jahren äußerlich etwas dem Westen angenähert. Der bis dato noch sowjetisch anmutende Einzelhandel folgt nun eher westlichen Vorbildern, lange Öffnungszeiten eingeschlossen. Es sind große Supermärkte und Shopping Malls entstanden. Allerdings liegt die Preisgestaltung selbst für Grundnahrungsmittel nur knapp unter dem deutschen Niveau und ist damit nur schwer erschwinglich. Was fehlt, ist weiterhin der Servicegedanke. Beamte und staatliche Dienstleister treten den Menschen nach wie vor in sowjetischer Manier autoritär gegenüber. Die Ausnahme sind private Kleinunternehmer. Der Verkehr hat erkennbar zugenommen. Die vielspurigen Straßen sind im Berufsverkehr regelmäßig verstopft. Sowjetische PKW-Modelle sind die seltene Ausnahme im Stadtbild geworden. In Minsk ist eine überschaubare Club- und Barszene entstanden – kein Vergleich zum pulsierenden Nachleben im nahen litauischen Vilnius aber noch vor wenigen Jahren undenkbar. Offensichtlich gibt es in der Regierung derzeit eine gewisse Bereitschaft, solche Einrichtungen aber auch unabhängige Kulturveranstaltungen und kleine Festivals zu tolerieren. Aber auch in der Gastronomie steht die Preisgestaltung der westeuropäischen kaum nach. Wie sich Belarussinnen und Belarussen Priese leisten können, die insgesamt nahezu auf westlichem Niveau liegen, ist kaum erklärlich. Denn die monatlichen Einkommen liegen derzeit ganz erheblich unterhalb der staatlich angestrebten 500 Euro. Pensionäre erhalten kaum mehr als 100 Euro Rente. Verbreitete Subsistenzwirtschaft auf der eigenen Datscha ist eine der Antworten hierauf.

Die vielfache Währungsabwertung bei gleichzeitiger Inflation brachte empfindliche Einschränkungen und einen spürbaren Rückgang des Lebensniveaus mit sich. Trotzdem ist nicht mit Sozialprotesten zu rechnen. Die Menschen richten sich in den neuen Realitäten ein und sind offensichtlich leidensfähig. Es überwiegt die Sorge vor Instabilität, die in nächster Nähe in der Ukraine beobachtet werden kann.

Gleichwohl ist das belarussische Wirtschaftsmodell nicht tragfähig. Das Land ist von direkten und indirekten jährlichen Milliardensubventionen aus Russland abhängig. Diese sind aufgrund der politischen Anspannungen und wirtschaftlicher Probleme Russlands zunehmen ungewiss. Belarus steckt schon seit 2011, also noch vor Beginn der Wirtschaftskrise im wichtigsten Handelspartnerland Russland und vor dem Absturz des Ölpreises, in einer Wirtschaftskrise mit rückläufiger Produktivität. Dies weist auf strukturelle Probleme des Landes hin. Gleichzeitig ist das Land mit einer höheren Exportquote als Deutschland sehr anfällig für außenwirtschaftliche Schocks. 2017 wird im dritten Jahr in Folge wenn auch mit rückläufiger Tendenz mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung zu rechnen sein – diesmal um 0,9 Prozent. Erst 2018 ist mit einem Ende der Rezession zu rechnen. Die Privatisierung stockt. Der Sektor kleiner und mittlerer Unternehmen ist noch marginal. Jedoch hat die Regierung Interesse an der Entwicklung dieses Sektors signalisiert und hierfür Unterstützung der EU erbeten.

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