Strategiepapier 2017/2018
1. Die Situation in Belarus
Belarus spürt die politischen Auswirkungen der offensiven Politik Moskaus gegenüber den Nachbarstaaten mit einer gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit:
Gestützt auf ein Bündnis mit der Russisch-Orthodoxen Kirche fördert der Kreml ein Staats- und Nationenverständnis, das sich auf die „Werte der russischen Kultur“ („Russki Mir“) und auf den Stolz des mit großen Opfern errungenen militärischen Sieges über Hitler-Deutschland stützt. Das Nationalgefühl findet in den Demonstrationen der „unsterblichen Armee“ am Tag des Sieges, dem 9. Mai, in jedem Jahr seinen sichtbaren und gefühlsbetonten Ausdruck.
Das gemeinsame Schicksal des von der gesamten Sowjetunion geführten Großen Vaterländischen Kriegs findet in weiten Teilen der belarussischen Bevölkerung ein durchaus positives Echo
Russland übt nicht nur als wichtigster Wirtschaftspartner in der Eurasischen Wirtschaftsunion und im Wege von günstigen Bedingungen für Kredite starken Einfluss auf und in Belarus aus, sondern hat auch in kritischen Momenten die Möglichkeit, die Russland freundlichen Grundströmungen weiter Teile der Bevölkerung für Einflussnahmen nutzen zu können. Diese politische Option Moskaus ist Lukaschenko, seinem Apparat und den Menschen in Belarus allgegenwärtig.
Mit der Betonung der belarussischen Sprache und Geschichte, die auf dem flachen Land Mutter- und Umgangssprache ist, aber kaum in den Städten und in der staatlichen Verwaltung gesprochen wird und die aus dem Mund von Lukaschenko eher holprig klingt, versucht die belarussische Führung, ein Bewusstsein nationaler Identität zu schaffen, das im Wege des „Anderssein“ ein auch im politischen Denken und Handeln der Menschen verankertes Bewusstsein einer gesonderten nationalen Identität aufkommen lassen soll – objektiv und in der subjektiven Wahrnehmung.
In jüngster Zeit macht die Bildung einer selbstständigen belarussischen Universität in Minsk von sich reden, die vornehmlich in belarussischer Sprache lehren und forschen soll. Angesichts der Entfremdung der im litauischen Exil verankerten und weiterhin von der EU finanzierten, früher belarussischen EHU – Europäische Humanistische Universität – zielt die Neugründung auf die Bildung eines belarussischen Kultur- und Staatsbewusstseins ab. Der Erfolg hängt von der Duldung durch den Lukaschenko-Staat und von der Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel ab. Von nicht geringerer Bedeutung wird die Wahl der an der Universität zu bildenden Fakultäten sein.
An Schulen gilt Belarussisch aktuell für lediglich 13 Prozent aller Schüler als Unterrichtssprache (2012 – 17 Prozent, 2007 –21 Prozent). Es ist zu beobachten, inwieweit die aktuelle Akzentuierung der belarussischen Sprache diese Zahlen beeinflussen wird.
Bemerkenswert war im Jahre 2017 eine weitere Verschiebung des Diskurses um die nationale und die sprachliche Identität sowie die damit zusammenhängende staatliche Eigenständigkeit bzw. Unabhängigkeit des Landes von Russland. Wurde die Diskussion bislang vorwiegend von der unabhängigen und dem Regime gegenüber kritischen Zivilgesellschaft geführt, besetzten im Jahre 2017 zunehmend auch Regierung und der Präsident selbst das Thema.
Im Sommer 2017 appellierte Außenminister Makej auf dem in Belarus stattfindenden, in vierjährigem Rhythmus einberufenen Weltkongress aller Belarussen in der Diaspora – etwa 3,5 Millionen Menschen – an die Einheit aller Belarussen angesichts der internen und externen Herausforderungen an das Land. Bei anderer Gelegenheit betonte Lukaschenko selbst die historische Verbindung von Belarus mit dem Großfürstentum Litauen – ein deutliches Abrücken von dem bisherigen nationalen Narrativ, das sich ausschließlich auf die kommunistische Vergangenheit und den Großen Vaterländischen Krieg stützte.
Im Interesse der Unabhängigkeit von Belarus, die durch die politischen Zielsetzungen der Kremlführung und entsprechende Desinformationskampagnen prinzipiell in Frage gestellt wird, hat die Europäische Union zum Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft im November 2017 in Brüssel erstmalig auch den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko eingeladen – obschon eine substantielle Verbesserung der Menschenrechtslage im Lande nicht eingetreten ist.
Diese Initiative wurde durch eine Podiumsdiskussion ergänzt, die im Oktober in Tallinn in Form eines Dialogs von Vertretern der belarussischen Regierung und der Europäischen Union unter dem Vorsitz und der Moderation des Zivilgesellschaftlichen Forms der Östlichen Partnerschaft stattgefunden hat.
Die im vierjährigen Rhythmus abgehaltenen russisch-belarussischen militärischen Manöver fanden im September überwiegend in Belarus unter dem Motto „Zapad 2017“ (Westen 2017) statt – in einem weit über den der OSZE gegenüber angekündigten Umfang an Personal und Waffen hinausgehenden Rahmen. Es gab einige Zwischenfälle und Demonstrationen gegen diese Manöver. Belarus hatte von sich aus OSZE-Beobachter eingeladen, denen allerdings Zugang zu russischen Einrichtungen nicht gewährt wurde. Teile der Bevölkerung befürchteten, dass die russischen Truppen nicht in ihre Heimatgarnisonen zurückkehren, sondern dauernd in Belarus stationiert werden könnten, was sich jedoch nicht bewahrheitete.
Die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung zeigt weiterhin negative Tendenzen. Bemerkenswert waren Demonstrationen gegen die vom Staat angekündigten Sondersteuern für nicht angemeldete Arbeitslose. Nach anfänglicher Duldung der nicht angemeldeten Demonstrationen griff das System energisch durch. Im Wege administrativer Strafen (Geldstrafen, kurze Gefängnisstrafen) wurden potentielle Unruheherde unverzüglich ausgemerzt, ohne dass der Vorwurf erhoben werden konnte, neue politische Gefangene, also Märtyrer zu schaffen. Ebenso sollte der russischen Seite kein Vorwand zur offenen oder verdeckten Intervention geliefert und die eigene Handlungsfähigkeit auf dem Gebiet der Sicherheit sichtbar demonstriert werden.
Unter dem Eindruck der Demonstrationen hat Lukaschenko im Oktober 2017 eine Reihe von bis dato als informell geltenden unternehmerischen Aktivitäten von Einzelpersonen als nicht-registrierungspflichtig per Erlass anerkannt – ein Jahr, nachdem die ersten 18 freiberuflichen Tätigkeiten wie z.B. Schuh- oder Uhrreparatur, Schneiderei und Friseurhandwerk von der Registrierungspflicht als Einzelgewerbe befreit worden waren. Die Unternehmer müssen eine monatliche von den lokalen Behörden festgelegte Steuer gemäß vorliegenden Aufträgen im Voraus entrichten. Sie müssen keine Buchführung nachweisen und keine jährliche Steuererklärung abgeben. Die von den Einzelunternehmern hergestellten Produkte dürfen nun auch über das Internet vertrieben werden. Offizielle belarussische Statistiken gehen von einem informellen Sektor mit 20 Prozent Marktanteil aus. Das Regime bringt wider seinen eignen Willen einen Teil des informellen Sektors in den gesetzlichen Rahmen.
Die Bevölkerung versucht, sich mit eigenständiger wirtschaftlicher Betätigung und im Wege der Arbeitsaufnahme im Ausland am Leben zu erhalten.
Der vom Staat weitgehend unabhängige IT-Sektor in Belarus arbeitet wie in der Ukraine und in den baltischen Republiken vor allem für den europäischen Markt und für Nordamerika. Die Zuwachsraten der IT-Industrie sind beeindruckend. Unter Verzicht auf politischen Widerstand und gesellschaftliche Vernetzung schafft sich die Bevölkerung wirtschaftliche und gewisse soziale Freiräume – allerdings eingeschränkt durch das Verbot formaler Vergesellschaftung.
Die unabhängige Kulturszene ist lebendig und wirkt autonom.
2. Belarus und die Östliche Partnerschaft – bilaterale Beziehungen mit Belarus
Belarus – Integraler Teil Europas
Die Vereinigung „Menschenrechte in Belarus e.V.“ fordert die europäischen Institutionen sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten, aber auch Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen auf, ihr Engagement in Belarus zu stärken und die Bürgerinnen wie Bürgern des Landes in der Gewissheit zu stärken, dass auch dieses osteuropäische Land zu Europa gehört und im Ringen um seine Unabhängigkeit, aber auch um die innere Erneuerung aus und von Europa Unterstützung erfährt.
Das Lukaschenko-Regime steht den europäischen Reformansätzen ablehnend gegenüber wie auch der starke Nachbar im Osten, die Russische Föderation, die im Wege der Eurasischen Union die Schlüsselrolle Russlands in Osteuropa wie auch in anderen Teilen der früheren Sowjetunion konsolidieren und fördern will.
Die Gestaltung der Beziehungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten orientiert sich an den gemeinsam bei Gipfelkonferenzen der Östlichen Partnerschaft verabschiedeten Grundsätzen, die heute darauf gerichtet sind, differenzierte, länderspezifische Programme zu entwickeln. Als gemeinsames Forum hat sich das der „Zivilgesellschaften“ herausgebildet, die unabhängig von staatlichen Institutionen Gedankenaustausch und Perspektiven für die Aktivierung zivilgesellschaftlicher Initiativen fördern.
Die Europäische Kommission hat auch die Unterstützung für private kleine und mittlere Unternehmen (KMU-Sektor) in Belarus durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) für weitere vier Jahre bis 2021 verlängert. Die EBRD engagiert sich seit 2012 im Rahmen der Östlichen Partnerschaft in Belarus und bietet vorrangig Beratungsdienste durch unabhängige lokale und internationale Sachverständige. Zwischen 2012 und 2016 wurden mehr als 250 Unternehmen auf dem Feld der Produktivitätssteigerung gefördert, einschließlich Kreditvergabe; 1500 Arbeitsplätze wurden dadurch neu geschaffen. Bis 2021 sollen weitere 200 Unternehmen aus den Regionen des Landes in das KMU-Programm der Europäischen Entwicklungsbank aufgenommen werden.
Angesichts des wachsenden Spannungsverhältnisses zwischen Russland und Belarus anerkennt die Europäische Union das Streben von Belarus nach internationaler Absicherung der nationalen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft hat sich die Europäische Union im Oktober 2017 dazu entschlossen, den Präsidenten des Landes erstmalig zu der Gipfelkonferenz aller an der Östlichen Partnerschaft und der EU beteiligte Staats- und Regierungschefs unmittelbar einzuladen. Dies war bislang wegen der fehlenden demokratischen Legitimation des Präsidenten von Belarus nicht geschehen. Damit sind die Prioritäten im Verhältnis der EU zu Belarus verändert worden. Dies ist auch als ein Signal an Moskau zu werten.
Problemfelder
Im Verhältnis zu Belarus stehen die bislang erfolglosen Verhandlungen über Visumsfreiheit im Raume, ebenso wie im Verhältnis mit dem Europarat das Festhalten von Belarus an der Todesstrafe und ihrer Anwendung. Die nach Bildung des autoritären Regimes Lukaschenko im Herbst 1996 von der Europäischen Union beschlossene Unterbrechung des Ratifizierungsverfahrens für den schon ausgehandelten „Vertrag über Partnerschaft und Kooperation“ beeinträchtigen Handel und Wandel im europäisch-belarussischen Verhältnis wie die Möglichkeiten von Weltbank und der Europäischen Investitionsbank. Die Regeln der Staatswirtschaft und das Fehlen der unabhängigen Judikativen beeinträchtigen ausländische Investitionen und Technologietransfer – unverzichtbare Voraussetzungen für die Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit der belarussischen Wirtschaft. Die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion kann diese Nachteile nicht ausgleichen.
Die vorhandenen bilateralen Kontakte auf offizieller Ebene und im Rahmen der bilateralen zivilgesellschaftlichen Foren – wie das nun wieder in fast regelmäßigen Abständen stattfindende Minsk Forum der Deutsch-Belarussischen Gesellschaft – mögen atmosphärisch zur Entkrampfung der Beziehungen beitragen – darüberhinausgehende Ergebnisse sind nicht zu erwarten.
Die Europäische Union unterstützt nun auch nichtstaatliche Initiativen für den nichtstaatlichen, den kommunalen und den zivilgesellschaftlichen Bereich – ein Beitrag zur Förderung des Wandels von geschlossenen – also sowjetischen oder staatlich-autoritären Gesellschaftsvorstellungen zu denen der offenen Gesellschaft mit Verantwortung und der Menschen und Bürger im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich. Solche Projekte werden jeweils von Repräsentanten des belarussischen Staates begleitet.
Entwicklungspotenzial der Universitäten
Die Europäische Union fördert auch weiterhin die im litauischen Exil registrierte Europäische Humanistische Universität (EHU). Die staatliche schwedische Organisation für Entwicklungszusammenarbeit, SIDA, verwaltet die EU-Mittel, nachdem es in der Vergangenheit zu erheblichen Verfehlungen im Management der EHU gekommen war. Die Europäische Union verzichtet aber darauf, inhaltlich auf die Gestaltung der Universität und ihrer Lehr- und Forschungsziele Einfluss zu nehmen – ein Nachteil, der wegen fehlender Innovationskraft und Initiative an dieser wie auch an anderen Institutionen in der Transformations-Zone zum reformerischen Stillstand oder gar zum Rückschritt führt. Man spricht von Schein-Demokratie und muss auch von der Restauration autoritärer politischer und universitärer Verhältnisse sprechen. Die EHU hat heute keinen Rückhalt mehr in der demokratisch orientierten Zivilgesellschaft von Belarus.
Dies wird auch an dem Versuch deutlich, der belarussischen Seite mit der probeweisen Einbeziehung der staatlichen belarussischen Universitäten in den Bologna-Prozess die Möglichkeit zu geben, Lehr- und Forschungsfreiheit zu erwerben. Nach Ablauf von zwei Jahren zeichnet sich keine Liberalisierung des rigiden staatlichen belarussischen Kontrollsystems gegenüber den eigenen Universitäten ab.
Es drängt sich der Hinweis auf autoritäre politische und universitäre Verhältnisse auch in ost-mitteleuropäischen Ländern auf, die Mitglied der Europäischen Union sind.
Berlin, Dezember 2017
Vorstand
Dr. Hans-Georg Wieck
Stefanie Schiffer
Christoph Becker
Stephan Malerius