Verschwundene Politiker in Belarus

Veröffentlicht von Menschenrechte in Belarus am

Im Laufe der Jahre 1999 und 2000 verschwanden in Belarus vier bekannte oppositionelle Personen:

  • am 7. Mai 1999 der frühere Innenminister Jurij Zaharenko
  • am 16. September 1999 Viktor Gončar, der frühere Vize-Präsident des von Präsident Alexander Lukaschenko aufgelösten weißrussischen 13. Obersten Sowjets, sowie der Unternehmer Anatolij Krasovskij
  • am 7. Juli 2000 schließlich verschwand Dmitrij Zavadskij, der früher Kameramann des weißrussischen Präsidenten war.

Die Fälle dieser Verschwundenen sind durch die belarussischen Behörden bis heute nicht aufgeklärt worden. In einem Untersuchungsbericht (sog. Pourgourides-Bericht) kam der Europarat zu dem Ergebnis, dass für diese Fälle des Verschwindenlassens bis heute keine angemessenen Untersuchungen durchgeführt wurden. Darüber hinaus finden sich im Pourgourides-Bericht starke Anhaltspunkte dafür, dass die an den Aktionen beteiligten Personen offenbar auf Weisung und mit Billigung von Verantwortlichen der Staatsführung in Belarus verschwanden und möglicherweise getötet wurden.

Trotz des Pourgourides-Berichts war die Dokumentation der Prozesse des Verschwindenlassens wie auch der nachfolgenden Ermittlungsverfahren sowohl in Belarus alsauch in Deutschland bislang lückenhaft. Der Verein „Menschenrechte in Belarus e.V.“ legt deshalb mit beiliegender Dokumentation erstmals eine umfangreiche deutschsprachige Ausarbeitung zum Thema vor.

Neben einer Einführung in die gesamtpolitische Lage des Landes im Jahre 1999 wird darin in einer Übersicht und Kommentierung der Einzeldokumente die Quellenlage dargestellt und die Bedeutung der in deutscher Übersetzung und russischer Sprache (Faksimile) vorgelegten Dokumente bewertet.

Ergebnisse unserer Untersuchungen

In unserer Dokumentation wird festgestellt, dass viele Indizien dafür sprechen, dass das Verschwindenlassen offenbar unter Vor- und Nachbereitung durch Viktor Šejman erfolgte, der zu dieser Zeit Sekretär des weißrussischen Sicherheitsrates und enger Vertrauter Lukaschenkos war. Sein Handeln muss zumindest mit Präsident Alexander Lukaschenko abgestimmt gewesen sein, vermutlich wurde Šejman jedoch von Lukaschenko angeleitet.

Der von Šejman damals geleitete Sicherheitsrat hatte offenbar außerrechtliche Strukturen geschaffen, die unabhängig von den verfassungsmäßigen Rechts- und Justizorganen Tötungen durchführen konnten, die politisch motiviert waren. Als späterer Generalstaatsanwalt beschränkte Šejman anschließend die Ermittlungen, so dass bis heute nur ein Teil der von ihm vermutlich angeleiteten Täter zur Rechenschaft gezogen wurde.

Auch bei dieser Taktik ist anzunehmen, dass Šejman nicht autonom handeln konnte, sondern Anweisungen von Alexander Lukaschenko umsetzte und von ihm geschützt wurde. Seine Ernennung zum Generalstaatsanwalt setzt eine Anordnung durch den Präsidenten voraus, so dass angenommen werden kann, dass auch Lukaschenko das Interesse verfolgte, die Aufklärung der Fälle zu verhindern.

Die weißrussischen Behörden haben, so wird in unserer Dokumentation gezeigt, nicht alles Erforderliche unternommen, um Täter und mögliche Hintermänner der hier behandelten Fälle zu identifizieren und zu bestrafen.

Im Unterschied zum Pourgourides-Bericht kommt diese Dokumentation zu dem Schluss, dass zwischen den Fällen Zaharenko, Gončar/Krasovskij und Zavadskij durchaus eine inhaltliche und organisatorische Verbindung besteht, die bei Alexander Lukaschenko endet. Wenn auch hierfür kein zwingender Beweis vorgelegt werden kann, deuten doch alle Indizien, insbesondere Motiv und Zielsetzung, auf Präsident Lukaschenko als Auftraggeber hin.

Obwohl Lukaschenko in den vergangenen Jahren über alle Möglichkeiten verfügt hat, die Fälle des Verschwindenlassens aufzuklären, hat er nichts von dem, was in seinen Möglichkeiten gestanden hat, unternommen. Damit hat er den Verdacht erhärtet, dass er selbst für diese Fälle ursächlich verantwortlich ist.

Das vorliegende Material gibt zum ersten Mal in deutscher Sprache einen detaillierten Einblick in die Originaldokumente der Staatsanwaltschaft. Personen, Strukturen und Abläufe konnten erstmals in dieser ausführlichen Art beschrieben und für weitere Ermittlungen aufbereitet werden. Insgesamt geht die Schilderung in Umfang und Tiefe deutlich über den Bericht Pourgourides’ hinaus, vor allem auch bezüglich der Menge der verwendeten Quellen.

Von besonderer Bedeutung sind die unter den Nummern 3.1-3.3, 4.2-4.9 sowie 5.10-5.13 wiedergegebenen Schriftstücke.

Die Bedeutung der Dokumentation für die deutsche und europäische Außenpolitik

Die bis 2004 von der EU, dem Europarat und der OSZE getroffenen politischen Entscheidungen haben das belarussische Regime nicht zu weiteren Aufklärungsbemühungen in den Fällen der Verschwundenen bewegen können. Nicht eine Stärkung der internationalen Organisationen, sondern eine Schwächung war in den letzten Jahren zu beobachten. Die OSZE musste das Mandat der von Dr. Wieck von Dezember 1997 bis Dezember 2001 geleiteten Beratungs- und Beobachtungsgruppe in Minsk, deren Maßnahmen zur Demokratieförderung nicht unter dem Genehmigungsvorbehalt der Regierung standen, im Jahre 2002 deutlich abschwächen.

Die EU hingegen vermochte es bislang nur in geringen Ansätzen, ihre Nachbarschaftspolitik so umzugestalten, dass sie wirksame Demokratieförderung in unmittelbarer Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft organisieren konnte. Auch das im November 2006 verabschiedete EU-Dokument zu Belarus “What the European Union could bring to Belarus” stellt nur eine Zusammenfassung der bekannten EU-Positionen dar und weist die dringend erforderlichen neuen Impulse nicht auf. Bilaterale Schritte konzentrieren sich auf Einzelaspekte der Gesamtproblematik.

Die Vereinigung „Menschenrechte in Belarus e.V.“ hat das als zu gering erscheinende Engagement internationaler Organisationen und der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Staaten kritisch begleitet und in ihrem Strategiepapier bereits im April 2006 Möglichkeiten für eine Kurskorrektur zum Umgang mit Belarus vorgeschlagen. Es ist unter www.human-rights-belarus.org abrufbar.

Diesem Schreiben liegt eine auf den neuesten Stand gebrachte Fassung des Strategiepapiers zu Belarus bei.

Handlungsempfehlungen

Bezüglich der Fälle des Verschwindenlassens möchten wir darüber hinaus folgende Handlungsempfehlungen abgeben:

Ausgehend von dem Hintergrund der Erkenntnisse aus dieser Dokumentation schlägt der Verein „Menschenrechte in Belarus e.V.“ konkret folgende Maßnahmen zur Aufklärung der Vorgänge des Verschwindenlassens und zur Identifizierung der Täter vor:

  • Die belarussischen Ermittlungen zu den Fällen der Verschwundenen in Belarus müssen unter wirksamer internationaler Beobachtung unverzüglich und in vollem Umfang wieder aufgenommen werden.
  • Es empfiehlt sich die Einrichtung eines begleitenden internationalen Untersuchungsausschusses.
  • Die Familienangehörigen der Verschwundenen müssen hinsichtlich beruflicher, psychischer und sozialer Belange angemessen durch das Ausland unterstützt werden. Der derzeit geleistete materielle und fachliche Beistand erweist sich als unzureichend.

Die Analyse zum Download: