Strategiepapier 2009
Lageanalyse und Politikempfehlungen
Im Oktober 2008 wechselte die Europäische Union ihre Strategie gegenüber Belarus – der „letzten Diktatur Europas“ – von einer Isolationspolitik hin zu einem Dialogangebot an die Führung in Minsk. Diesem Schritt vorangegangen war zwar die Entlassung politischer Gefangener. Er erfolgte aber auch kurz nach den Parlamentswahlen, die von der OSZE als weder fair noch frei bezeichnet wurden und von deren Verlauf eine mögliche Dialogpolitik zuvor abhängig gemacht worden war. Wegen der fehlenden öffentlichen politischen Diskussion wurde dieser Strategiewechsel daher von weiten Teilen der politischen Opposition in Belarus mit Unverständnis aufgenommen und als Verrat an den demokratischen Werten der Europäischen Union empfunden. Nachdem Belarus in der Folge nur mäßig und wenig substantiell den Forderungen der EU nach einer politischen Öffnung nachkam, wurde das Land im Mai 2009 zur Teilnahme am neuen Programm der Östlichen Partnerschafft der EU mit sechs Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Belarus, Moldawien, Ukraine) eingeladen. Vor diesem Hintergrund kommt der aktiven Mitwirkung der Zivilgesellschaft aus Belarus und aus anderen osteuropäischen Ländern an der Zusammenarbeit in Rahmen der Östlichen Partnerschaft eine große politische und psychologische Bedeutung zu. Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft ist auch ein „Forum der Zivilgesellschaft“ vorgesehen, dass nach einem Vorläufertreffen am 5.und 6. Mai 2009 erstmalig im November 2009 in Brüssel zusammentreffen soll. Die EU anerkennt damit die Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements für den Annäherungsprozess und greift Forderungen aus den Zivilgesellschaften nach stärker Einbindung auf. Allein die tatsächliche Ausgestaltung des „Forums der Zivilgesellschaft“ und die ihm zugedachte Rolle im Rahmen der Östlichen Partnerschaft bleibt bislang unklar.
Lageanalyse zu Belarus
Der Strategiewechsel der EU von einer Isolationspolitik hin zum Dialog mit Minsk spielt sich vor veränderten Beziehungen zum bislang engsten belarussischen Verbündeten Russland ab, mit dem Belarus über einen Unionsvertrag verbunden ist. Der Gaskrieg zum Jahreswechsel 2006/2007 markierte den öffentlich sichtbaren Beginn der Abkühlung des Verhältnisses. Russland erzwang den schrittweise Abbau der subventionierten Energiepreise für Belarus und erzeugte damit Druck auf die bis dato relativ stabile Volkswirtschaft des Nachbarlands. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise führte seit Mitte 2008 wegen der einseitigen Ausrichtung des belarussischen Exports auf den nun drastisch schrumpfenden russischen Markt zu einer enormen Verschärfung der wirtschaftlichen Situation. Das Gesamtexportvolumen von Belarus brach im Vorjahresvergleich zeitweise um 50 % ein, Währungsreserven werden seitdem in einem enormen Tempo konsumptiv aufgebraucht. In dieser Situation war Belarus zu einer weiteren Auslandsverschuldung vorrangig in Russland und beim Internationalen Währungsfond gezwungen. Die Kredite und vorgenommene Haushaltskürzungen um ein Fünftel können die ernsthaften Probleme jedoch nur kurzfristig hinauszögern. Der Georgienkrieg im August 2008 verdeutlichte die russischen Entschlossenheit, den fünf außenpolitischen Prinzipien des russischen Präsidenten Medwedews folgend seine Interessen und Vormachtstellung im Raum der Gemeinschaft unabhängiger Staaten nötigenfalls auch militärisch durchzusetzen. Belarus – wie auch die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – sah durch das russische Vorgehen seine Unabhängigkeit in Fragegestellt und folgte Moskau trotz massiven Drucks nicht bei der Anerkennung der georgischen Provinzen als unabhängige Staaten. In der Folge kam es zu gegenseitigen verbalen Attacken, Handelskonflikten und der Versagung einer letzten Tranche eines bereits zugesagten russischen Kredits für Belarus. Russland ist durch sein Handeln der letzten Jahre inzwischen vom einstigen Garanten zum ernsthaften Risiko für die Unabhängigkeit von Belarus geworden. Belarus sucht in dieser Situation eine Annäherung an die Europäische Union und hofft, durch eine intensivere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU eine größere Unabhängigkeit von Russland zu erlangen. Wegen der starken strukturellen und wirtschaftlichen Verbindung mit Russland wird eine grundlegende Umorientierung auf die EU kurz- und mittelfristig aber kaum möglich sein. Die Politik der Westöffnung von Belarus kann daher im Sinne einer Schaukelpolitik zur Verschaffung größtmöglicher Freiräume nach Ost und West hin verstanden werden. Angesichts dieser neuen strategischen Lage in Europa kann die Einbeziehung von Belarus in die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union als strategisch richtige Entscheidung gewertet werden. Sie kann durch die Zusammenarbeit in den Plattformen der Partnerschaft, bei der Grenzsicherung, Energiesicherheit und durch die Schaffung gemeinsamer Standards, Wirtschaftsräume und Assoziierungsabkommen die demokratischen Transformations- und Reformprozesse in den sechs Nachfolgestaaten der Sowjetunion vorantreiben. Die Östliche Partnerschaft bedarf jedoch einer nachhaltigen, substantiellen und finanziell gut ausgestatteten Umsetzung, für die auch das nötige Engagement der Europäischen Mitgliedsstaaten unerlässlich ist. Elementar ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft, um in den Annäherungsprozess neben den Fragen Wirtschaft, Umwelt, Energie, Stabilität und Sicherheit auch dem demokratischen Transformationsprozess ausreichend Gewicht zu verleihen. Ein wesentliches Problem europäischer Belaruspolitik bleibt das Fehlen eines Visumserleichterungsabkommens für Belarus, das den internationalen Austausch gerade für die junge Generation durch restriktive Visumsvergabepraxis und hohe Gebühren unnötig belastet. Dieser Zustand führt zudem zu einer Benachteiligung gegenüber den Nachbarländern, die allesamt über derartige Abkommen verfügen. Noch immer folgt die Europäische Union dem fragwürdigen Ansatz, Visumserleichterungen als Anreiz für die Entwicklung der politischen Beziehungen zu benutzen und damit die Bevölkerung in Haftung für das Handeln der autoritären Regierung zu nehmen.
Empfehlungen an die Politik
Der Verein Menschenrechte in Belarus empfiehlt einer europäischen Politik gegenüber Belarus,
- unabhängig von der Entwicklung der politischen Beziehungen umgehend Verhandlungen für ein Visumserleichterungsabkommen zu beginnen,
- in den thematischen Plattformen der Östlichen Partnerschaft ein besonderes Augenmerk auf die Fragen der Mediengesetzgebung, Registrierungsverfahren für Nichtregierungsorganisationen und Parteien sowie Rechtsstaat und politischen Missbrauch des Rechtssystems zu legen,
- zivilgesellschaftlichen Organisationen Zugang und gegebenenfalls Stellungnahmen zu allen thematischen Plattformen der Östlichen Partnerschaft zu gewähren,
- wegen der besonderen politischen Situation die Einrichtung eines EU-Sonderbeauftragten zur Koordinierung der Zusammenarbeit mit der belarussischen Zivilgesellschaft in Erwägung zu ziehen,
- die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Östlichen Partnerschaft von der Zustimmung durch die belarussischen Regierung unabhängig zu gestalten,
- systematische Wahlbeobachtungen durch lokale Organisationen in den kommenden Jahren zu unterstützen,
- den Jugendaustausch für politische und berufliche Bildung durch Auflage von Austauschprogrammen zu unterstützen,
- die Auseinandersetzung mit der politischen Entwicklung in und außerhalb Belarus etwa durch regelmäßig stattfindende Belarus-Konferenzen zu unterstützen.