Strategiepapier 2014

Veröffentlicht von Menschenrechte in Belarus am

Zur Lage in Belarus und Empfehlungen für aktive Maßnahmen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten

1. Die Lage in Belarus

Spannungen Moskau – Minsk

Das autoritäre Lukaschenko-Regime sichert seine prekäre strategische Lage durch eine Politik der kontrollierten Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation, die unter Wladimir Putin eine von Moskau gesteuerte Eurasische Wirtschaftsunion durchsetzen will. Belarus ist ein wichtiger Baustein. Die Entwicklung dieser Wirtschaftsunion steht im Schatten der offensiven Moskauer Außen- und Militärpolitik, die durch eine interventionalistische nationalistische Propaganda nach Innen und Außen ergänzt wird und daher in den postsowjetischen Nachbarstaaten wie der hauptbetroffenen Ukraine, aber auch in den baltischen Staaten und in Belarus Kriegsangst und Furcht vor russischer politischer Infiltration hat aufkommen lassen. Über die von vielen Bevölkerungsteilen frequentierten staatsnahen russischen Fernseh- und Radioprogramme wird die russische Sichtweise in die Familien der Nachbarvölker transportiert. Auch das belarussische Regime nimmt diese Bedrohung für die Unabhängigkeit des Landes wahr und wird von Teilen der Bevölkerung bei dem zähen Ringen um Kompromisse mit Moskau in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen unterstützt, zumal Lukaschenko es sich neuerdings angelegen sein lässt, die belarussische Sprache als Symbol der belarussischen Unabhängigkeit auch offen zu fördern. Wegen seines vom Machterhalt bestimmten Beharrens auf der Staatswirtschaft kann es Lukaschenko aber nicht gelingen, sich von der wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit von Moskau freizumachen. Mit der logistischen Unterstützung der europäischen Vermittlungsbemühungen im russisch-ukrainischen Konflikt hat Lukaschenko mit dem „Minsk Prozess“ an internationalem Status und Ansehen gewonnen – ungeachtet der fortbestehenden Kritik der Europäischen Union, des Europarats und der USA an den fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Belarus.

Zwanzig Jahre Lukaschenko-Verfassung in Belarus

Das Lukaschenko-Regime begeht im November 2016 den zwanzigsten Jahrestag der verfassungswidrigen und gewaltsamen Durchsetzung der undemokratischen Verfassungsreform. Das Regime hält im Interesse des Machterhalts an der Staatswirtschaft im industriellen Sektor, an der kollektiven Landwirtschaft und der staatlichen Kontrolle von Handel und Gewerbe fest. Dem rasant sich entwickelnden informellen Sektor der Wirtschaft, der zum Erhalt eines hinreichenden Lebensstandards der Familien in Belarus in erheblichem Umfang beiträgt, sind enge Grenzen gesetzt: Eine sich selbst organisierende neue, gesellschaftlich und wirtschaftlich relevante Kraft soll verhindert werden.

Fortsetzung von Menschenrechtsverletzungen

Aus strategischen Gründen öffnet sich das Regime verbal der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, um Optionen für die Sicherung seiner Unabhängigkeit gegenüber russischem Druck aufzubauen und um nach Möglichkeit wirtschaftspolitischen Spielraums für die dringend erforderliche Modernisierung des Industrieparks und die Erweiterung der Absatzmärkte zu gewinnen. Kontakte innerhalb und außerhalb der Östlichen Partnerschaft nehmen zu. Substantielle Reformen mit dem Ziel der Liberalisierung der politischen Kultur des Landes oder des Respekts für die unabhängigen individuellen Menschenrechte sind jedoch nicht zu beobachten.

Nach der Freilassung der letzten noch hinter Gefängnismauern festgehaltenen Oppositionellen im August 2015 suspendierte die Europäische Union im Februar 2016 fast alle Sanktionen. Es bleiben die nach dem Verschwindenlassen von Oppositions-Führern in den Jahren 1999/2000 sowie die im Jahre 1997 verhängten Sanktionen, u.a. die Aufhebung des Gast-Status beim Europarat und die Suspendierung der Ratifizierung des Kooperationsvertrags zwischen der EU und Belarus in Reaktion auf den verfassungswidrigen Verfassungscoup vom 26. November 1996.

Mit Beklommenheit und Enttäuschung müssen die westlichen Länder die Zunahme von Todesurteilen und deren Vollstreckung registrieren, die seit der Aufhebung der Sanktionen verfügt worden sind. Das Regime führt auch im täglichen Leben einen erbarmungslosen Kampf mit Verwaltungsstrafen (Geldbußen) gegen Protestaktionen welcher Art auch immer – seien es politische Proteste, seien es wirtschaftlich oder sozial ausgelöste Aktionen von Bürgern und Geschäftsleuten.

Man muss feststellen, dass die Suspendierung der Sanktionen keine Entspannung im Kampf des Regimes gegen unabhängige Medienberichte und Versammlung von Bürgern für Proteste oder öffentliche Meinungsäußerungen gebracht hat – heute gewiss nicht nur aus Furcht vor Freiheitsbestrebungen der Bürger, sondern auch angesichts der politischen und indirekten Interventionen Moskaus in die politische Meinungsbildung der Bevölkerung im Lande.

Es ist zu beobachten, dass die westlichen Regierungen intensivere Beziehungen zu und mit Belarus pflegen – um dem Land den Rücken im Umgang mit Moskau zu stärken, ohne den Irrtum zu begehen, zu erwarten, dass das Regime selbst auch nur Anzeichen eines innenpolitischen Kurswechsels zu erkennen gibt.

Die Wahlen am 11. September 2016 zur Parlamentarischen Versammlung, die 110 Abgeordnete umfasst, sind als integraler Bestandteil „geordneter politischer Verhältnisse des autoritären Präsidialsystems“ abgelaufen, ohne die europäischen Standards der Transparenz bei der Auszählung der Stimmen auch nur im Entferntesten zu erreichen und ohne in den Wahlkommissionen die Dominanz der staatlichen Stellen in Frage stellen zu können. Die politische Weltfremdheit des Präsidenten in Fragen der politischen Kultur eines demokratisch verfassten Staates manifestiert sich in dem manipulierten Wahlsieg von zwei unabhängigen Kandidaten, die nun unter 108 Getreuen des Präsidenten in der Parlamentarischen Versammlung wirken und gewiss bald unter Druck kommen werden.

Die politischen Parteien, deren Ziele sich aus der europäischen Werteordnung ergeben, fristen infolge vielfältiger Unterdrückungsmaßnahmen weiterhin eine beklagenswerte Existenz am Rande der staatlich gesteuerten Gesellschaft.

Das gilt auch für den Medienbereich: Nur über die Wahrnehmung von Internet-Veröffentlichungen ist es dem Bürger möglich, sich ein umfassenderes Bild der Entwicklung im Lande und auf der internationalen Bühne zu machen. Bezeichnenderweise mussten sowohl in Russland als auch in Belarus die seit Jahrzehnten als unabhängige Meinungsforschungsinstitutionen bekannten Lewada- und IISEPS-Institute ihre Tätigkeit einstellen – ein unersetzlicher Verlust für die Meinungsbildung im Lande und auf der internationalen Bühne. Ohne Kenntnis der sich differenzierenden Meinungsbildung der Menschen in den autoritären Systemen wird es den westlichen Ländern immer schwerer werden, ein den Realtäten entsprechendes Lagebild im Lande und hinsichtlich der Stimmung der Bevölkerung zu gewinnen. Ausländische Journalisten sind schon heute in Moskau und in Minsk unter Druck, weil der Medienberichterstattung in Deutschland negative Parteilichkeit zu Lasten von Moskau und Minsk vorgeworfen wird.

Blühende Städte“ und Bürger in Not

Ungeachtet schwerer wirtschaftlicher und finanzieller Probleme bietet sich dem Besucher von Minsk und anderen Städten das äußere Bild von Wohlstandsgesellschaften. Das Bild täuscht. Der Staat kann die von ihm zugesagten Leistungen – Wohnung, Ausbildung, Beruf, Gesundheit und Alterssicherheit – nur im formalen Sinne, aber nicht mehr im realen Sinne erfüllen. Es bedarf großer Anstrengungen der Bürger, im Wege eigenständigen wirtschaftlichen Handelns oder der Arbeitsaufnahme im Ausland, um die Finanzierungslücken im Familienhaushalt zu decken.

Die steuerlichen Belastungen der nichtstaatlichen Unternehmen sind erneut gestiegen – eine Entwicklung, die den staatlichen Erklärungen zur Förderung des privaten Sektors diametral zuwiderläuft und das Investitionsklima erneut absinken lassen wird.

In der Tradition der sowjetischen und russischen Leidensfähigkeit duldet die Masse der Bevölkerung die Einschränkungen ihrer Rechte und wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Freiheiten. Im Zweifel bauen die Belarussen auf Hilfe aus Russland, von dem abhängig zu sein eine Lebenserfahrung darstellt, die allerdings im Zeichen des neuen neo-nationalistischen Herrschaftsstrebens der Kreml-Partei mit großen Fragezeichen für die Wahrung der Unabhängigkeit von Belarus versehen ist. Historische Bezüge zu freiheitlich und offenen Gesellschaften sind im Bewusstsein der Bürger des Landes nur noch von marginaler Relevanz. Das europäische Modell ist angesichts seiner propagandistischen Diffamierung durch die staatlich gesteuerten Medien keine sich aufdrängende Alternative.

Die strategisch ambivalent gewordene Lage des Lukaschenko-Regimes manifestiert sich in der neuen Militärdoktrin vom 20. Juli 2016, die analog zu westlichen Sicherheitsdoktrinen den defensiven Charakter der Streitkräfte und die Förderung friedlicher Konfliktlösung betont. Bezeichnenderweise führte Belarus im Laufe dieses Jahres Übungen zur Abwehr hybrid ausgeführter Angriffe durch – eine Reflexion auf die geltende russische Militärdoktrin und –praxis.

Regierung und Öffentlichkeit sind sich der vielfältigen meinungsbildenden Einflüsse der russischen Medien bewusst, die möglicherweise auch bei dem Mitführen der russischen Fahne in der belarussischen Mannschaft der Para-Olympics in Rio de Janeiro eine politische Provokation darstellen sollte – zum Schaden von Belarus.

2. Empfehlungen

Angesichts der Bedrohung auch des osteuropäischen Raums durch den machtpolitisch ausgreifenden russischen Neo-Nationalismus und des nur zögerlich voran schreitenden Reformprozesses in den Ländern der Östlichen Partnerschaft drängen sich folgende Empfehlungen für die Politik der Europäischen Union und ihrer Mitglieder auf:

1. Priorität bei der Förderung der Umsetzung der bislang im Rahmen der Östlichen Partnerschaft geschlossenen Assoziierungsabkommen (Ukraine, Georgien, Moldau)

Von nicht geringerer Bedeutung ist die Verstärkung der Zusammenarbeit im Rahmen des Bürgerforums der Östlichen Partnerschaft (Civil Society Forum Eastern Partnership) – auf diesem Wege können themen- und personenbezogene Netzwerke entstehen, die langfristig von großer Bedeutung für die Entwicklung eines politischen Klimas in den Ländern der Östlichen Partnerschaft sein können. Im Fazit: Die Diskussion über die gemeinsamen Werte der Gesellschaft werden als Grundlage demokratischer Ordnungen dienen, aber auch als Basis für sozio-ökonomische Bedingungen in der Wirtschaft, die eine sozial verankerte Marktwirtshaft initiieren und fördern können .

2. Verstärkung der Auslandsprogramme westlicher Informationssysteme in den Sprachen des Raums – dies ist notwendig, um der russisch geführten Einflusspropaganda aus Moskau zu begegnen.

3. Verstärkung des multilateralen Kultur- und Jugendaustausches

4. Förderung von Aus- und Fortbildung nachwachsender Generationen und junger Berufsanfänger

5. Schaffung von „Zukunftsforen“ für diese und in diesen Ländern. Mögliche Themen: Innere und äußere Sicherheit; Migration und Integration, duale Berufsausbildung, Soziale Marktwirtschaft, Entwicklung und Reform in den Europäischen Institutionen)

6. Beratung und Meinungsbildung zur EHU

Bei einer im November mit Sachverständigen vorgenommenen kritischen Bestandsaufnahme der2015 versuchsweise aufgenommenen Einbeziehung der Hochschulen in Belarus in den Bologna-Prozess wurde deutlich, dass die Regierung bei der Umsetzung der Rahmenbedingungen für das Bologna-Verfahren keinerlei Entgegenkommen erkennen ließ – aus Furcht , die Kontrolle über den akademischen Lehr-. und Forschungsbereich zu verlieren. Die Versuchsperiode wird im Jahre 2018 auslaufen. Die Aufnahme in den Bologna-Prozess setzt die akademische Lehr – und Forschungsfreiheit voraus. Sie ist derzeit in Belarus nicht gegeben.

Daher ist es aus mehr als einem Grund wünschenswert, dass die EHU – die Europäische Unabhängige Universität im Exil (Wilna) – ein gutes Beispiel für den Respekt vor der akademischen Lehr- und Forschungstätigkeit in ihren Einrichtungen vorgibt. Daran werden von nicht wenigen Sachverständigen ernsthafte Zweifel geäußert. Solchen Zweifeln muss die Europäische Union, die als wichtigster finanzieller Förderer der EHU agiert, auf den Grund gehen. Die finanzielle Kontrolle reicht nicht aus, um den europäischen Werten auch im Forschungs- und Lehrbetrieb sowie im Verwaltungsbereich der Universität Gewicht und Geltung zu verschaffen.

Berlin, November 2016

Dr. Hans-Georg Wieck, Botschafter a.D., Vorsitzender

Stefanie Schiffer, Stellvertretende Vorsitzende

Christoph Becker, Schatzmeister

Stephan Malerius, Beisitzer